Knaller an der Zeitungsfront

Wednesday, November 28, 2007

Die geteilte Wahrheit /Tagesspiegel

Die geteilte Wahrheit
Kabale, Ketzer, Kommunisten: zur Debatte um die DDR-Dissidenten Robert Havemann und Wolf Biermann
Von Kerstin Decker 25.11.2007 0:00 Uhr

Es gibt kein Denken ohne Begriffe. Sie sind das Werkzeug des Geistes. Der Einfachheit halber benutzen wir immer dieselben: Dissident zum Beispiel. Oder Regimegegner. Oder Unrechtsstaat. Was sich denken lässt, ist damit schon vorentschieden. Und was sich nicht denken lässt, auch.

Nächste Woche erscheint Florian Havemanns Roman „Havemann“, und schon vorab ist er in vieler Munde. Weil der Sohn des Oberdissidenten der DDR darin große Löcher macht in die Dissidentenaura seines Vaters Robert und in die des Vizedissidenten Wolf Biermann gleich mit. Was, der Vater hat antisemitische Briefe geschrieben? Und Biermann hat vorher gewusst, dass er rausfliegt aus der DDR, wenn er in Köln singt anno 1976? Letzteres ist zwar keine neue Nachricht, aber für viele wächst nun doch die Irritation. Warum eigentlich? Weil das Wort Dissident, Andersgläubiger also, klingt wie der Gute, Aufrechte, Gerechte. Und nun sollen Havemann und Biermann auch teilgebückt und ungerecht gewesen sein.

Beide verstanden sich als Kommunisten, darum waren sie gegen ihre Glaubensbrüder an der Macht. Wir sind die echten Kommunisten! Fast alle Unterzeichner des Protests gegen die Biermann-Ausbürgerung sahen sich als Kommunisten. Der „Spiegel“ nannte sie vor Jahresfrist „Helden“. Man sollte sich das unter den Bedingungen der wiederkehrenden einfachen Weltbegriffe klarmachen: Diese Dissidenten waren Kommunisten und galten trotzdem als die Guten, gerade im Westen.

Die Formel von den „zwei Diktaturen auf deutschem Boden“ ist formal richtig, aber nur eine Teilerkenntnis. Absurd zu denken, die Gegner der Nationalsozialisten hätten je argumentiert: Wir sind die besseren Nazis! Wenn der Parallelruf in der DDR – Wir sind die besseren Kommunisten! – aber nicht nur möglich, sondern wirklich und wirksam war, muss die Wahrheit tiefer liegen. Natürlich, wer sich heute einen Kommunisten nennt, ist entweder Zyniker oder nimmt die zugehörige Weltanschauung noch immer als Religionsersatz. Biermann hat das für seine Generation vielleicht am besten gesagt: Wer jetzt noch Kommunist ist, ist wohl nie einer gewesen.

Opposition ist kein Privileg der 68er. Der junge Robert Havemann, Student und Doktorand am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie, hatte vor 1933 seine Kreise, die eigene Familie inklusive, gern mit seiner kommunistischen Weltsicht erschreckt. 1933 sah das schon anders aus. Zu Jahresanfang hatten er und seine Freundin im Auftrag der „Kommunistischen Internationale“ den bald als Reichstagsbrandstifter mitangeklagten Bulgaren Wassili Taneff versteckt. Der Hauptangeklagte war Georgi Dimitroff.

Provokante Gedankenfreizügigkeit konnte lebensgefährlich sein. Nicht nur Florian Havemann hat ein Buch über seinen Vater geschrieben, der vom Volksgerichtshof 1943 wegen Zugehörigkeit zu einer Widerstandsgruppe zum Tode verurteilt wurde – Harold Hurwitz, emeritierter FU-Professor für Soziologie schreibt auch gerade eins. Auch Hurwitz kennt die antisemitischen Briefe vom Frühjahr 1933, aber er lässt keinen Zweifel daran, dass es Tarnbriefe waren (siehe Interview, Tsp. vom 24.11.).

Ein Kommunist im Dritten Reich – das war keine gute Identität, schon gar nicht für einen ehrgeizigen Doktoranden. Und wer wie Havemann gleichzeitig für eine kommunistische Untergrundorganisation arbeitete, durfte alle möglichen Identitäten besitzen, aber keinesfalls seine wahre. Antisemit war nicht die unglaubwürdigste. Ob ein Moment von Ranküne im Spiel war – Havemanns Doktorvater war Jude, viele Professoren und auch der Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts, die jetzt gehen mussten – wer will das entscheiden? Es gibt einen Namen für Havemanns neue Existenzform seit 1933: Doppelleben. Ohne einen sportiven Faktor – wer ich heute bin, entscheide immer noch ich – wird man nicht gut darin. Und Havemann war gut. Selbst die besten Freunde nahmen diese Seite an ihm wahr: „Für Robert stand die Wahrheit nicht an erster Stelle. Viel wichtiger war sein Wirken.“ (Jürgen Fuchs)

Und nun der Zeitsprung in die DDR. Vater und Sohn. Wer jung ist, neigt zu moralischen Unbedingtheiten, braucht Orientierung, erst recht in einer Diktator. Der Vater spricht im Namen der ungeteilten Wahrheit, einerseits, und lebt, andererseits, im Namen der Einsicht: Die Wahrheit ist nicht so wichtig, jedenfalls nicht so wichtig wie ich. Zeigte dieser Kompass nicht in alle Richtungen zugleich? Noch in der Todeszelle der Nazis hatte Robert Havemann „kriegswichtige Arbeiten“ geleistet. Er war nicht zu stellen. Aus solchem Bemerken, Sohnesbemerken, entsteht historische Erfahrung. Sie hat ihr eigenes Recht.

Schon hat mancher Florian Havemanns Roman mit Wolf Biermanns Worten über Havemann junior vom Tisch gewischt: „Ein tragischer Fall.“ Welch dumme Härte. Denn es gibt nicht viele Menschen von so viel reflexiver Kraft, ja fast Weltweisheit, wie Florian Havemann, den Brandenburger Laien-Verfassungsrichter. Auch wenn der radikal subjektive Ton seines Buchs immer wieder das Prätentiöse streift.

Biermann. Es gibt Menschen, auf die man sich im Notfall verlassen kann – und die anderen. Biermann gehört ziemlich eindeutig zur zweiten Gruppe, das haben viele in Ost – und später in West! – bezeugt. Und die Unterzeichner des Protests gegen die Ausbürgerung Biermanns wurden nie müde zu betonen, dass es nicht um Biermann ging, nicht um die Person, nur um den Fall. Ein Prahler, ein Geck, ein Aufreißer, der selbst vor Margot Honecker nicht haltmachte? Biermann selbst schreibt, M. H. habe bei ihm zu Hause „mit zusammengeklemmten, ideologisch weggeknickten Knien“ hochoffiziös in dem Sessel gesessen, der sonst Robert Havemann vorbehalten war. Ja, mein Gott, der Mann ist Künstler.

Bärbel Bohley, Malerin, Dissidentin der vorletzten Stunde und Inkarnation des moralischen Gewissens zur Wendezeit, hörte auf zu malen, als sie Dissidentin wurde. Sie repräsentiert den nicht seltenen Typus des Gegenfanatikers, vermeintlich selbstlos. Biermann sagte immer zuerst „ich“, bevor er „wir“ sagte. In gewissem Sinne ist das beruhigend. In gewissem Sinne gibt es gar nichts Beunruhigenderes als die Selbst-Losigkeiten.

Biermann und Margot Honecker. Das Proletarierkind Margot aus Halle taucht unter bei den Biermanns in Hamburg, wo Wolf gerade erfuhr, dass sein Vater im KZ umgekommen ist. Man hilft einander. Ein Rotfrontkämpfer (Biermanns Großvater) dem anderen (Margots Vater). Wenn Arbeiter nicht Arbeitern helfen, hilft ihnen keiner. Das prägte den Begriff von proletarischer Solidarität. So stellten sich die Kommunisten, die im Osten nach 1945 an die Macht kamen – viele direkt aus den KZs und Zuchthäusern – das neue sozialistische Leben vor.

Sie kannten oft nichts anderes: bedingungslose Hilfe auf der einen Seite, Zuchthaus, Gefängnis auf der anderen. Nur dass jetzt sie die Unwilligen, die Störenfriede ins Gefängnis steckten. Für uns oder gegen uns! Dass sich mit unbedingter (konspirativer!) Solidarität eine Untergrundorganisation oder eine Sekte führen lässt, aber nie eine Gesellschaft, haben die alten Genossen nie verstanden. Aber es war zu keiner Stunde die programmatische Menschenverachtung der Nationalsozialisten, die sie zu Menschenverächtern in der Praxis werden ließ. Es war ihr abstrakter Glaube an ein Ideal.

Ja, wahrscheinlich war Biermann gewarnt worden, dass er nicht zurückdurfte 1976. Aber was ändert das? Biermann gibt auch zu, vorher mit Havemann über diese Möglichkeit gesprochen zu haben. Dass zwischen den beiden Proletarierkindern inzwischen Welten lagen, ja ganze Sonnensysteme, mag man an Margot Honeckers Satz ermessen: „Ach Wolf, wenn du doch mit uns den richtigen Weg gehst, dann könntest du in der DDR der größte Dichter werden.“ – In einem an sich wohlmeinenden Satz lag die ganze Zumutung, Unhaltbarkeit und Dummheit des Systems.

Der furchtbar kluge, vor allem aber klug-furchtbare Oberstalinist Peter Hacks hat einmal gesagt, der häretische Verstand sei selten faltenreich. Er hat – leider – oft recht behalten. Der nächste Verwandte des Dissidenten ist nicht umsonst der Ketzer. Dissidenten und Ketzer haben meist Gegenwahrheiten, Opferwahrheiten, auch Hasswahrheiten. Es sind Wahrheiten, nur meist keine ganzen. Denn ihre Träger kennen selten Distanzen, auch nicht zu sich selbst. Und vielleicht sollte man Menschen misstrauen, die sich notfalls für ihre Wahrheit verbrennen lassen?

Dass Havemann und Biermann schon vom Typus her nicht zu ihnen gehörten, spricht letztlich für sie. Also gab es selbst unter den Dissidenten keinen, an dessen Mut, Moral und Verstand man sich gleichermaßen halten konnte? Einen Gerechten im umfassendsten Sinn? Doch, gibt es. Wolfgang Ullmann war einer. Oder Friedrich Schorlemmer, der 1983 im Lutherhof von Wittenberg ein Schwert zu einer Pflugschar umschmieden ließ, 1988 auf dem Evangelischen Kirchentag mit zwanzig DDR-kritischen „Wittenberger Thesen“ auffiel und nach der Wende dennoch Erich Honecker aufgenommen hätte, als der auf seiner entwürdigenden Flucht durchs Land war.

Seit er vierzehn war, wurde er bespitzelt von der Staatssicherheit, die später erwog, das Problem Schorlemmer mittels Autounfall aus der Welt zu schaffen. Wie viel Grund hätte er zu einer einfachen Wahrheit gehabt. Und er zieht noch immer die schwere vor, die konkrete, die in keine Schublade passt. Nicht aus christlicher Sanftmut – es gibt keine Sanftmut des Denkens – wohl aber aus Achtung vor der eigenen Biografie. (Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 25.11.2007)

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